- Erichthonivs
ERICHTHONIVS, ii, Gr. Ἐριχθόνιος, ου, (⇒ Tab. XXIX.)
1 §. Namen. Diesen hat er, nach einigen, von ἐρίον, Wolle, und χθὼν, Erde, weil Minerva das, woraus er entstund, mit etwas Wolle von sich abwischte, und auf die Erde warf. Eustath. & Didym. ad Hom. Il. Β. v. 547. Es setzen ihn aber mehrere aus ἔρις, Streit, und χθὼν, Erde, zusammen, weil es zwischen der Minerva und dem Vulcan einen ziemlichen Kampf setzte, wodurch seine Erzeugung veranlasset wurde. Hygin. Fab. 166. & Serv. ad Virg. Georg. III. v. 113. Einige nennen ihn sonst auch Erechtheus. Homer. Il. Β. v. 547. Man muß ihn aber alsdann nicht mit einem andern Könige dieses Namens zu Athen vermengen.
2 §. Geburt und Auferziehung. Als Vulcan eines Males den übrigen Göttern ungemein schöne Stühle von Gold und Diamanten gemachet hatte, Juno aber, so bald sie sich auf den ihrigen setzete, damit in der Luft zu schweben kam, ohne, daß sie sich, oder sonst jemand, ihr wieder loshelfen konnte, so wurde Vulcan um deren Loslassung angegangen. Er wollte sich aber keines Weges dazu verstehen, weil ihn Juno aus dem Himmel geworfen hatte. Jedoch, als er sich endlich berauschet, so brachte ihn Bacchus in die Versammlung der Götter, da er denn die Juno wieder befreyete, und dafür von dem Jupiter die Freyheit bekam, sich von ihm auszubitten, was er wollte. Wie nun Neptun der minerva nicht gut war, so stiftete er den Vulcan an, sich dieselbe zur Gemahlinn auszubitten, weil er wußte, daß ihr dadurch ein besonderer Verdruß geschehen würde. Vulcan that solches. Es stellete aber Jupiter der Minerva dabey frey, sich dessen zu erwehren, so gut sie könnte, welches sie denn auch dergestalt that, daß sein Samen darüber auf die Erde fiel, woraus denn Erichthonius entstund. Hygin. Fab. 166. Vornehmlich soll sie diese Verschüttung durch einen Schlag mit ihrem Spieße veranlasset haben. Eratosthen. Cataster. c. 13. Anderwärts erzählet man, sie habe sich vor ihm verstecket. Weil er sie aber ausfündig gemacht, so sey er ihr voller Brunst zu Leibe gegangen, da sich denn dieser Zufall eräuget habe. Sie habe aber aus Schame mit dem Fuße Erde darüber gescharret, und so sey Erichthon erzeuget worden. Hygin. Astron. Poet. L. II. c. 13. Noch andere melden, Minerva sey eines Males, da Venus nicht beym Vulcan gewesen, zu ihm gekommen, sich einige Waffen machen zu lassen. Hier habe er sich denn ihrer mit Gewalt bemächtigen wollen, sie ihn, aber mit Unwillen zurück gestoßen, jedoch sey sie dabey von ihm besudelt worden; welches sie denn traurig mit Wolle abgewischt, und auf die Erde geworfen, sich auch mit der Flucht eiligst davon gemacht. Immittelst brachte die Erde den Erichthonius daraus hervor. Apollod. L. III. c. 13. §. 6. Tzetz. ad Lycophr. v. 111. Er wird daher vielfältig für einen Sohn der Erde angegeben. Isocrates ap. Cerdam ad Virg. Georg. III. v. 112. Jedoch war er kein volliger Mensch, sondern ein Knabe mit einem Paar Drachenfüßen. Serv. ad Virgil. l. c. Andere melden, er habe durchaus die Gestalt einer Schlange gehabt. Hygin. Astron. l. c. Minerva that ihn also in ein Körbchen, oder Kästchen, und gab ihn des Cekrops Tochter, der Pandrosos, aufzuheben, mit dem ernsten Verbothe, solches Behältniß ja nicht aufzumachen. Apollod. l. c. Ihre Schwestern aber, Herse und Aglauros, oder auch nur diese letztere allein, waren dennoch so neugierig, daß sie sehen mußten, was darinnen war. Pausan. Attic. c. 18. p. 31. & c. 27. p. 48. Ovid. Metam. II. 559. Sie fanden also den Erichthon und bey ihm einen Drachen liegen, welcher sie dafür insgesammt umbrachte; oder worüber sie, nach andern, durch den Zorn der Minerva in eine solche Unsinnigkeit geriethen, daß sie sich von dem Schlosse zu Athen herbstürzeten. Apollod. l. c. Einige wollen, daß sie ein Rabe verrathen, und sie sich darauf im Meere ersäufet hätten. Hygin. l. c. & Astron. Poet. l. c. Cf. Ovid. Metam. II. v. 553. Minerva nahm darauf den Erichthonius selbst in ihren Tempel, und erzog ihn vollends ingeheim darinnen. Apollod. l. c.
3 §. Thaten. Als er erwachsen war, so vertrieb er den Amphiktyon vom Reiche, und bemächtigte sich selbst desselben, errichtete der Minerva Bildsäule in dem Schlosse zu Athen, und führete ihr zu Ehren die Panathenäen ein. Apollod. lib. III. c. 13. §. 6. Einige schreiben ihm selbst die erste Erbauung des Tempels der Minerva in dem Schlosse zu Athen zu. Hygin. Astron. Poet. L. II. c. 13. Insonderheit ist er daher berühmt, daß er zuerst die vierspännigen Wagen erfunden, welches dem Jupiter selbst so sonderbar vorgekommen, daß er ihn dafür mit unter die Sterne versetzet, woselbst er der Fuhrmann Heniochus, oder Auriga, seyn soll. Eratosthen. Cataster. 13. & Hygin. l. c. Cf. Virgil. Georg. III. v. 113. Zu dieser Erfindung sollen ihn seine eigenen Beine veranlasset haben, die er nicht gern vor den Leuten wollen sehen lassen, und sie also bey seinem Fortkommen von einem Orte zum andern, in den Wagen zu verbergen gesucht. Serv. ad Virg l. c. Andere dagegen wollen, er habe sich deren nur zuerst auf den von ihm angestellten Panathenäen bedienet. Var. ro ap. Philarg. ad Virg. l. c. & Marmor Arundell. ap. Marsh. Can Chron. Sæc. IX. p. 116. Sonst war er der vierte König der Athenienser, regierte nach der julian. Zeitrechnung von 3225 bis 3275, und also in die funfzig Jahre, worauf ihm denn sein Sohn Pandion in der Regierung folgete. Petav. Rat. Temp. P. II. l. II. c. 8. Er hatte solchen mit der Pasithea, einer Naide, gezeuget, und wurde er nach seinem Tode in den Tempel der Minerva begraben. Apollod. l. c. §. 67.
4 §. Eigentliche Historie. Daß er ein König zu Athen gewesen, hat seine unwidersprechliche Gewißheit: allein, was von seinem Vater, dem Vulcan, gemeldet wird, ist vermuthlich nur von einem Priester dieses vermeynten Gottes zu verstehen. Banier Entret. XIX. ou P. II. p. 275. Wie denn auch die angeführte Minerva keine andere gewesen, als des Kranaus Tochter. Tzetz. ad Lycophr. v. 111. Andere wollen, dieses Gedicht sey daher entstanden, daß er, als ein Findling, in einem Tempel gefunden worden, der dem Vulcan und der Minerva gewidmet gewesen. Augustin. de C. D. l. XVIII. c. 12. & ad eum Commentatores Viues & Coqueus l. c. Sein Namen soll, von der Partikel Eri, welche die Größe bedeutet, seine Leibesstatur bezeichnen. Daß er von der Erde geboren, Minerva ihn erzogen, und er Schlangenfüße gehabt habe, heiße nichts anders, als daß er nicht von fremden Orten gekommen, sondern ein einheimischer Edler, und ein verständiger Herr gewesen, der sich nicht leicht übereilet habe. Damms Götterl. 334 §. Den Namen soll er bekommen haben, als er sich mit dem Amphiktyon, nach des Kranäus Tode, um das Land, oder atheniensische Königreich gezanket. Die Drachenfüße, die er gehabt haben soll, werden entweder von seinen sehr ungestalten Beinen, oder auch von den Rädern der Wagen verstanden, auf denen er gefahren, deren Felgen und Speichen im Fahren einem Schlingen der Schlangen unter einander gleichen. Banier l. c. p. 276.
5 §. Anderweitige Deutung. Daß Minerva solchen Erichthonius gar sorgfältig verborgen, soll bemerken, daß kluge Leute anderer Schande gern verheelen und zudecken; und, daß selbiger halb ein Mensch, halb aber eine Schlange, und also eine häßliche Misgeburt gewesen, soll ein Merkmaal seyn, was eine schnöde Brunst und Geilheit, wie Vulcans seine war, für scheußliche Misgeburten an den Tag bringe. Masen. Spec. Ver. occ. c. XXIX. n. 10. Andere gehen ihrer Gewohnheit nach wiederum auf eine mehrere Spitzfindigkeit. Denn da χθὼν auch den Neid bedeuten könne, so werde darunter die Bestreitung desselben durch die Weisheit verstanden; daß ihn Minerva in einer Kiste verstecket, bedeute nichts anders, als daß ein Weiser seine Leidenschaft sorgfältig in seinem Herzen verhehle. Fulgent. L. II. c. 14. Einige verstehen durch den Vulcan die Kunst, durch die Minerva aber die Natur, der jene oft Gewalt anzuthun suche, allein selten zu ihrem Endzwecke komme, wohl aber durch vieles Kämpfen und Bemühen endlich etwas hervorbringe, das von oben her, oder von außen gar gut, von unten oder innen aber oft eben so häßlich und elend, als Erichthonius, bewandt sey, welches aber dennoch hernach wohl, als was sonderbares, gleichsam auf Triumphwägen eingeführet, und damit groß gethan werde, dergleichen man denn insonderheit den Herren Chymisten und Mechanikern beymißt. Baco Verulam. de Sap. Vet. c. 20.
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